Righeira-Hit wird 40Jahre alt
„Vamos a la Playa“: Tanzen zur atomaren Apokalypse – worum es in dem Sommerhit wirklich geht
Am Strand tummelt sich für gewöhnlich das Leben. In Righeiras Sommerhit von 1983 ist er der Schauplatz der Apokalypse.
Quelle: Getty Images
Mitte August 1983 stürmen Righeira mit ihrem Ohrwurm die deutschen Charts. „Vamos a la Playa“ wird zum Sommerhit des Jahres. Dabei ist sein Inhalt düster– und genau 40 Jahre danach aktuell wie lange nicht.
Es ist Sommer 1983 und Deutschland tanzt zum Sound eines Irrtums. Da ist natürlich erst einmal die Sache mit der Italodisco an sich. Synthies treffen auf südliche Sehnsucht, Adriano Celentano mit Strom unterm Hintern, jenseits der Dolomiten ein einziger Dancefloor – die Assoziationen schwappen vom Apennin in neongrellem Grün-Weiß-Rot herüber.
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Dass das aber keine in sich geschlossene Sammelbewegung ist, sondern erst durch die Wortschöpfung des hessischen Musikverlegers Bernhard Mikulski zum europaweiten Phänomen „Italodisco“ wird, ahnt keiner. Es spielt auch schlicht keine Rolle, man tanzt und singt und schwelgt zu dem, was da aus Italien an heißer Ware anlandet. Auch und vielleicht noch ein bisschen mehr als sonst, als im August „Vamos a la Playa“ zum Sommerhit des Jahres reift.
Vor genau 40 Jahren, am 15. August 1983, wirft das Popduo Righeira die Nummer über den deutschen Charts ab und lässt eine Ohrwurmbombe explodieren, die 18 Wochen lang die Hitparade brennen lässt und die Gehörgänge auf Jahrzehnte verstrahlt. „Vamos a la Playa“ – ein Lied, das innerlich die Sonne scheinen lässt, das selbst tanzunwillige deutsche Beine in Bewegung versetzt. Das inhaltlich aber, und das ist der größte aller Irrtümer des glühend heißen Musiksommers von 1983, von der Atomkatastrophe handelt.
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Das Musikvideo hätte stutzig machen sollen
Diese schrill leuchtenden Farben, dieser optische Fiebertraum – das Musikvideo hätte eigentlich schon stutzig machen müssen. Der doppelte Stefano, Righeira bestehen aus Stefano Righi und Stefano Rota, schwingt sich im Takt der Isotope durch drei Minuten und vierzig Sekunden, die umso verstörender werden, je öfter man den Clip anguckt.
Eine Strandszenerie aus der kalten Filmsetkonserve einer beliebigen Lagerhalle im Piemont, Statisten, die wie entkernt aussehen, dieser psychotische Aufblasschwan, und dann erst recht Righi und Rota in all ihrer Kurzärmeligkeit mit der Anmutung zweier Rüstungskonzernvertreter – alles daran schreit nach der Bombe. Dass da zwei Italiener auf Spanisch singen, warum auch immer, fällt da schon gar nicht mehr groß ins Gewicht. Oder vielleicht doch? Dazu gleich mehr.
Der Text jedenfalls geht, abgesehen vom notorischen wie unverwüstlichen „Vamos a la Playa, oh-o-o-o-oh“, dieser Mitsingkernwaffe im reichhaltigen Arsenal brandgefährlicher Italodiscorefrains, in den drei Strophen so:
Vamos a la playa / La bomba estalló / La radiaciones tostan / Y matizan de azul
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Vamos a la playa / Todos con sombrero / El viento radioactivo / Despeina los cabellos
Vamos a la playa / Al fin el mar es limpio / No más peces hediondos / Si no agua fluorescente
Nach dem Charteintritt zeigt sich, wie nah die Welt am Abgrund wandelt
Dreimal also „Lass uns an den Strand gehen“, aber das, was danach folgt, ist das eigentlich Interessante, frei übersetzt auf Deutsch singen Righeira: „Die Bombe ist explodiert, die Strahlung röstet und färbt blau“ – „Alle mit Hut, denn der radioaktive Wind zerzaust die Haare“ – „Endlich ist das Meer sauber, keine stinkenden Fische mehr, nur noch strahlendes Wasser“. Deutschland tanzt im August 1983, mehrheitlich ohne es zu wissen, zu den Klängen der Postapokalypse. Ein Feelgood-Lied mit Falloutbotschaft, das ist das Besondere an „Vamos a la Playa“, das Janusköpfige, verschanzt hinter den Barrieren einer Sprache, in der es für viele nur zu „cerveza“ oder „gracias“ reicht.
Wie nah das Szenario eines verstrahlten Europas damals ist, von dem die beiden Stefanos singen, zeigt sich schon wenige Wochen nach dem Charteintritt von „Vamos a la Playa“ auf erschreckende Weise: In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 steht die Welt am Rande des Atomkriegs. Die Rechner eines sowjetischen Luftüberwachungszentrums bei Moskau schlagen Alarm, mehrere US-Atomraketen sind dem Frühwarnsystem zufolge auf dem Weg, der Einschlag nur noch Minuten entfernt. Der diensthabende Oberst Stanislaw Petrow bewahrt die Ruhe, stuft die Meldung als fehlerhaft ein – und verhindert damit einen sofortigen Gegenschlag. Das System hatte die Reflexionen von Sonnenstrahlen auf beinahe fatale Art missinterpretiert.
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Ein Abziehbild diffuser und ganz konkreter Ängste vor dem Ende
Erneut einige Wochen später, Anfang November 1983, versetzt dann das Nato-Manöver „Able Archer“, mit dem das Militärbündnis den Einsatz von Nuklearwaffen simuliert, die Streitkräfte des Warschauer Pakts in Alarmbereitschaft. In sowjetischen Geheimdienstkreisen ist man schon seit einiger Zeit davon überzeugt, dass ein tatsächlicher Angriff als ebensolches Manöver getarnt würde. Die Anspannung in Moskau ist groß, eine unüberlegte Reaktion bleibt aber ebenso wie im September aus. Erst Jahre später wird bekannt, wie bedrohlich nah die Welt 1983 am Abgrund wandelt.
„Vamos a la Playa“ passt insofern perfekt in die Zeit, es ist ein künstlerisches Abziehbild diffuser und ganz konkreter Ängste vor dem ultimativen Ende. Möglicherweise ist das Lied sogar von der Wirklichkeit inspiriert, das Nuklearunglück von Palomares, heißt es häufig, diente dem Hit als inhaltliche Vorlage, auch wenn weder die Musiker von Righeira noch das sie produzierende Brüderduo La Bionda das je so bestätigt haben. Als Indiz dafür wird gern ins Feld geführt, dass Palomares ein Unglück auf spanischem Boden war. Das lässt sich auf Spanisch eben treffender besingen. Selbst von Italienern.
Vier Atombomben und ein Zwischenfall
Es ist der 17. Januar 1966, als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges über dem Fischerdorf Palomares an der spanischen Mittelmeerküste ein B-52-Bomber der US-Air-Force mit einem Tankflugzeug kollidiert. Beide Maschinen stürzen ab, sieben von elf Besatzungsmitgliedern sterben – und mit der B-52 fallen vier Atombomben vom Himmel. Drei gehen in bewohntem Gebiet nieder, die vierte landet im Meer. Dass keine einzige von ihnen explodiert, rettet die Menschen vor einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes, schließlich verfügen sie über das Hundertfache der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.
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Doch auch so sind die Folgen gravierend, denn zwei der mit Plutonium gefüllten Zünder detonieren und setzen mehrere Kilo radioaktiven Materials frei, das die Böden verstrahlt. Über Jahre verschleiert das Franco-Regime das Ausmaß der Katastrophe. Wie zum Beweis, dass alles nicht so schlimm sei, steigen Francos Tourismusminister und der US-Botschafter im März 1966, wenige Wochen nach dem Atombombenregen, in die Fluten von Palomares an der Costa Cálida. Ein zynisches Schauspiel, das die Sorgen und Proteste ertränken soll. Gleichwohl sind die Konsequenzen bis heute spür- und vor allem messbar, die Böden noch immer kontaminiert. Erst im März 2023 hat Spanien die USA erneut aufgefordert, die radioaktiv verseuchte Erde zu entsorgen und damit einer Absichtserklärung aus dem Jahr 2015 nachzukommen.
Palomares 1966 wirkt fort, und auch 1983 erwacht zu neuem Leben. Die Angst vor einer atomaren Eskalation ist durch den russischen Überfall auf die Ukraine, durch die sich zuspitzende nukleare Rhetorik, durch die seit Monaten schwelende Bedrohungslage rund um das größte Kernkraftwerk Europas, das AKW Saporischschja, aktuell groß wie seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr.
Righeira sind mit „Vamos a la Playa“ also erneut am Zahn der Zeit. Ein Evergreen, in diesem Fall im schlechtesten Sinne. Darauf ein tief geseufztes „oh-o-o-o-oh“.